Leo Tolstoi

Zur Erinnerung an den heute  (28.August) vor 191 Jahren  geborenen großen Schriftsteller  (aus  anima Nr.3/2010):

Leo Tolstoi
„ Die Sonne der vegetarischen Welt“ – Vegetarier im zaristischen Russland

Vor kurzem (Anm. 2010) sahen wir, welch Aufsehen der amerikanische Autor J.S.Foer in den Medien mit „Tiere essen“, mit seiner abwägenden und im Ergebnis negativen Beurteilung des Fleischkonsums erregte. Eineinviertel Jahrhunderte zuvor war es der weltberühmte russische Schriftsteller, der für Fleischverzicht plädierte, nicht als Ziel für sich, vielmehr als ersten Schritt zu einem einfachen sittlich guten Leben. Das Aufsehen war enorm, positiv und negativ. Wie dies etwa ein Leitartikel einer Pariser Zeitung1885 zeigt: 

„ Tolstoi, dessen kürzlich ins Französische übersetzter Roman „Krieg und Frieden“ die Pariser in Entzücken versetzt hatte, Tolstoi, der Graf, der reiche Mann, der gefeierte Krieger von Sewastopol, der glänzende Dichter, hatte mit der Gesellschaft gebrochen, sich von der Dichtung abgewendet und sich in den Streitschriften „Meine Beichte“ und „Meine Religion“ auf Rousseaus Seite gestellt, hatte der Kultur den Krieg erklärt und selbst seine Lehren in die Praxis umgesetzt, indem er Bauer geworden war. „Alle Menschen, so predigte er, sollen mit dem Körper arbeiten, wenn sie essen wollen. Kein Vermögen, kein Müssiggang. Keine Salons, keine galanten Intrigen, keine lasciven Bälle, keine wollüstigen Romane. Keine Städte, keine Industrie, keine Warenhäuser. Alle sollen auf dem Felde leben, im Walde, auf der See die Sonne geniessen, mässig essen und gut schlafen, glücklich leben und zufrieden sterben!“ Also, wieder ein Aufschrei gegen die Kultur wie er seit Jesus von den Aposteln Savonarola, Jean Jacques Rousseau, Lord Byron ausgestossen worden.“
„ Der Verfasser des Artikels klagt und jammert, denn der neue Apostel hat Jünger unter der gebildeten Jugend in Russland gewonnen, und selbst in Paris ist dieser Tage eine russische Prinzessin, die der großen Welt angehört, Hals über Kopf nach Hause gereist, um „Apostel“ zu werden“. (Zitiert nach August Strindberg, Unter französischen Bauern).

Doch der Reihe nach. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi wurde 1828 als Sohn eines Gutsbesitzers auf dem Gut Jasnaja Poljana bei Tula (ca. 200 km südlich Moskau) geboren. Im folgenden sein Lebenslauf nur schlagwortartig (für eingehender Be-fassung sei auf die zahlreichen biographischen Werke verwiesen, etwa die von Romain Roland voll dichterischem Elan und andere nüchterne), 1830 Tod der Mutter, 1837 Tod des Vaters, Erziehung durch eine Verwandte zuerst in Jasnaja, dann in Kasan, nach dem für den Adel üblichen Muster durch Hauslehrer, insbesondere für Sprachen; 1844-1847 Univer-sitätsstudium in Kasan, abgebrochen; einige eher ausschweifende Jahre in Moskau und St. Petersburg, 1851 in den Kaukasus zur Armee, beginnende schriftstellerische Arbeiten, dann im Krimkrieg 1854/55 erster künstlerischer Ruhm durch die realitätsnahe Schilderung des Lebens in der belagerten Festung Sewastopol, 1856 Austritt aus dem Militärdienst, 1857 und 1860/61 Auslandsreisen auch pädagogischer Studien halber, Gründung einer Schule in Jasnaja Poljana; Schreiben; 1862 Eheschließung mit der 18jährigen Arztenstochter Sophia Behrs aus Moskau, die ihm (neben einigen Fehl-geburten) 13 Kinder gebar, und ihm dazu große Unterstützung in Gutswirtschaft und Schriftstellerei war, 1864 –69 Arbeit an Krieg und Frieden, 1875 – 1877 an Anna Karenina.

Tolstoi hatte anders als die vielen schon als Jüngling sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens befasst, zwischen Leidenschaften und Selbsterziehung gekämpft. Nun mit fünfzig Jahren gewann der Suchende oberhand; Tolstoi rechnete in der etwa 1879 geschriebenen Beichte mit seinem bisherigen Leben ab, er ver-senkte sich in das Studium religiöser Schriften; das Lehrgebäude seiner orthodoxen Kirche gab ihm jedoch keine Befriedigung. Tiefe Erschütterung brachte ihm 1882 die Mitarbeit an der Volkszählung in einem Moskauer Bezirk: Erstmals wurde er hier des furchtbaren städtischen Elends gewahr, das die Armut auf dem Lande noch übertraf. Er fand schließlich zu einer ihm eigenen Auslegung des Christentums im Ideal, unzulänglich gesagt, eines sehr einfachen werktätigen Lebens eher mönchischen Charakters in einer urchristlichen Gemeinschaft verbun-den in brüderlicher Liebe.

Neben dem ‚tierschützerischen’ Aspekt (beim Vegetarismus) – schreibt Peter Brang– hatte die ethische Motivation bei Tolstoi auch eine soziale Komponente. Immer wieder muss man sich, will man sich über seine Radikalität in der Forde-rung nach Vereinfachung und Selbstbe-scheidung wundern, die ihn umgebende Wirklichkeit vor Augen halten. Er fand es unerträglich, dass im Herrenhaus viel Mü-he auf exquisite, raffinierte Speisen ver-wandt wurde, während ringsum bittere Armut und periodisch immer wieder Hun-ger herrschte. Die Situation ähnelte teil-weise der, die weltweit den Beginn des 21.Jahrhunderts kennzeichnet, da in den Supermärkten der Industriestaaten die Regale sich von leckeren Hunde- und Kat-zenfutter biegen, während in der Dritten Welt täglich Tausende verhungern. Nur lag die Not, im Unterschied zur Gegen-wart, nicht in weiter Ferne, war sie nicht lediglich anonymisiert auf dem Bildschirm zu sehen– man begegnete ihr täglich hautnah.“

Damals hatte man noch kaum die modernen Heinzelmännchen – die Maschinen; allein die harte Fronarbeit der Unteren ermöglichte das Wohlleben der Oberen. Nur ein Beispiel: Die tägliche Arbeitszeit für das Personal betrug selbst im vegeta-rischen Restaurant in Moskau vor der Revolution 1917 dreizehn Stunden.

In den letzten dreißig Jahres seines Lebens spielt die Schriftstellerei nicht mehr die große Rolle, Tolstoi schuf noch zwei Werke von Weltgeltung, Kreutzersonate und Erbarmen. Sein Schaffen konzentrierte sich auf viele weltanschauliche Schriften, auf Pamphlete, in denen er seine Weltanschauung erläuterte – Gerech-tigkeit, Frieden, Gewaltlosigkeit – und zu Fragen der Zeit Stellung nahm, Liberalismus, Sozialismus, das zaristische System geißelte, ein nicht unerheblicher Beitrag zu den revolutionären Ereignissen im Gefolge des verlorenen Kriegs gegen Japan. Die meisten dieser Schriften waren zwar von der Zensur verboten, doch im Untergrund im Umlauf. Ihn selbst wagte das Regime nicht anzugreifen, wohl aber wurde er 1901 von der Kirche exkommuniziert.

All die Jahre waren getrübt durch die zunehmende Entfremdung von seiner Frau; sie konnte seinen Ideen nicht folgen, wollte das Familienvermögen den vielen Kindern sichern und lehnte die vegetarische Lebensweise ihres Mannes ab. Zudem bedrückte diesen der Widerspruch zwischen ethischer Forderung und der Tatsache des Lebens als Gutsbesitzer. Schließlich kam es im Oktober 1910 zum Ausbruch Tolstois aus Jasnaja Poljana; eine Lungenentzündung auf der Flucht beendete seinen Weg.

Nun zum Vegetarismus. Etwa 1884 be-gann Tolstoi – mit kleineren Unterbre-chungen – fleischlos und zeitweise rein pflanzlich zu leben. Der Verkehr mit bedeutenden westlichen Vegetariern bestärkte ihn in der Ernährungsumstellung und half ihm die familiären Widerstände zu überwinden.
Tolstois Vegetarismus – meint Peter Brang in seinem 2002 erschienenen Werk Ein Unbekanntes Russland (siehe Seite 15), dem wir im weiteren Verlauf folgen – war ein komplexes Phänomen. Es ging nicht um bloßen Verzehr von Fleisch. Tolstois Bekenntnis zu einer vegetarischen Lebensweise hatte gesundheitliche Aspekte, ethisch-humane, ästhetische, pädagogische, soziale, gastronomische, ökologische und ökologische – und alle diese waren Teil seines Strebens nach einer umfassenden Reform des Lebens, eines Aufrufs an die Menschheit und an jeden Einzelnen, an einer sittlichen Umgestaltung der Welt mitzuwirken.

Zeitweiser Fleischverzicht war in Russland fast die Regel gewesen, doch religiös motiviert. Zwei Fasttage (in der Bedeutung von fleischlos) in der Woche, Freitag und Mittwoch, wochenlange Fasten vor bestimmten Festen, war für die breiten traditionell religiösen Kreise Selbstverständ-lichkeit. Dazu für viele durch Armut der Zwang zur fleischfreien Nahrung. Auch zahlenmäßig nicht unbedeutende Sekten lehrten fleischlose oder pflanzliche Ernährung.

Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts im westlichen Ausland wachsende Interesse am Vegetarismus war auch in Russland von einigen registriert worden. A. N. Beketov, einer der führenden russischen Botaniker, lange Jahre Rektor der Petersburger Universität, selbst kein Vegetarier, hatte sich schon 1878 in einer längeren Studie Die Ernährung des Menschen in seiner Gegenwart und Zukunft entschieden für eine vegetarische Ernährung eingesetzt; er brachte nicht nur er-nährungsphysiologische und ökonomische Gründe sondern auch hu-manitäre:
Die Liebe zu allem Lebendigen vertrage sich nicht mit der Tötung der stummen Kreatur, der Abscheu vor jedem Blutver-giessen sei immer ein Merkmal der Hu-manität. …

Dort irgendwo draußen vor der Stadt steht das Schlachthaus, ein widerlicher, stinkender und bluttriefender Ort, wo man würgt, ausweidet, hackt und aus den Adern fliessen lässt; aber wer wirft denn dorthin auch nur einen flüchtigen Blick? Dort irgendwo jenseits der Donau (Anm. der russisch-türkische Krieg war gerade zu Ende) liegen Tausende von toten oder halbtoten menschlichen Kör

pern, zerfleischt und auf alle Weise entkräftet. … Mich dünkt, dass diese zwei Schlachtorte in unvergleichlich engerer Verbindung zu einander stehen, als man gewöhnlich meint: dass das Metzger- und das Kanonenfleisch … zwei Erscheinungen sind, die einander bestimmen oder zumindest einander stützen.
Die Schrift blieb ohne große Resonanz. Erst Tolstoi, der in manchem auf Beketov zurückgriff, war dank seiner Berühmtheit der erste, der das Gedankengut weiteren Kreisen nahe bringen konnte. Besonderes Aufsehen erweckte hiebei seine 1891/92 verfasster Essay Pervaia stupen – Die erste Stufe. (Wir möchten in der nächsten anima ausführlicher auf sie eingehen). Sie wurde auch im Westen begeistert aufgenommen, auf Vegetarierkongressen bejubelt, ein Blatt nannte Tolstoi „die Sonne der vegetarischen Welt“.

In Russland entstanden im Lauf der beiden folgenden Jahrzehnte (teils behindert von der Polizei) in rund 15 größeren Städten teils sehr aktive vegetarische Gesellschaften, Restaurants (1914 in ca.40 Städten zusammen über 70), weiters gab es Zeitschriften, Verlage. Die Vereine blieben (auch wegen hoher Mitgliedsbei-träge und polizeilicher Observation) zwar klein, selbst in Peterburg und Moskau gab es im Schnitt kaum mehr als je 100 Beitragszahlende; die Zahl der Restaurantbesucher dagegen war beträchtlich, in den vier von der Moskauer Vegetarier-Gesellschaft betriebenen Speiselokalen 1914 im Schnitt täglich fast 1.900. (Eine Zählung am 20.11.1912 in den Kiewer Vereins-Speisehäusern ergab bei fast 1.500 Besuchern einen Anteil von über 70 % Nicht-Vegetariern). Erfolglos blieben die Bemühungen einen zentralen Vegetarierverband für ganz Russland zu schaffen; nicht nur wegen des Widerstands der Behörden; es gelang nicht, für die unterschiedlich motivierten Gruppen, gesundheitsbezogene, ethisch fundierte, gemäßigte (lacto/ovo), strenge (heute vegan genannte) Vegetarier einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Das tat dem Aufblühen des Vegetarismus jedoch keinen Abbruch. Getragen war die Bewegung vorwiegend von Gebildeten, Künstlern, Intellektuellen.
Mit der kommunistischen Machtergreifung war alles zu Ende, nicht abrupt, allmählich durch Schikanen und dann Verbote. 1930 war das Vereinsleben endgültig ausge-löscht. Der Begriff vegetarisch wurde zum Unwort, fast sechzig Jahre lang.

Den meisten Heutigen ist Tolstoi längst entschwundene unwirkliche Vergangenheit. Seine Ideenwelt ist ihnen fremd. In einigen vegetarischen Zitatensammlungen finden sich noch Sinnsprüche dieses Apostels der Gewaltlosigkeit. Ein Zitat ist es vor allem, das uns Tolstoi nicht vergessen lässt. Der oben wiedergebene Gedanke Beketovs, den er so einprägsam verdichtet hat:

Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.

Erwin Lauppert