“Fleischessen 1 km”

ein Verkehrszeichen, das zu  einer kleinen Ortschaft in Niederösterreich weist.
Fleisch essen – die falsche Richtung. 
Verursacht Vegetarismus mehr Blutverg ießen als Fleisch essen? – Sind Pflanzenesser Mörder? – Zurück auf die Prärie zu den Büffeln? – Den Mäusen zuliebe Kühe essen? Im Jänner veröffentlichte der Betreiber der website Urgeschmack.de Felix Olschewski in seinem Blog einen Artikel, betitelt Verursachen Vegetarier mehr  Blutvergießen als Fleischesser? Der Verfasser steht der so genannten Paläo-Diät, auch Steinzeit-Diät genannt,  nahe, die i.w. Getreide, Hülsenfrüchte, Milchprodukte ablehnt und auf Fleisch, Gemüse und Obst setzt. Die Frage fiel mir wieder ein, als unlängst ein Schulkind  seine Abneigung gegen Spinat kundtat: Seine Biologielehrerin habe erzählt, als Werkstudentin hätte sie in einer Tiefkühlfabrik gearbeitet; dort sei es ihre Aufgabe gewesen, im Spinat nach toten Mäusen zu suchen..

Der Blog-Eintrag hatte im Winter zu hitzigen Kontroversen im Internet geführt.. Die anima war damals nicht darauf eingegangen, da sie zum Thema noch genauere Recherchen führen wollte. Olchewski ist entschiedener Gegner der modernen industriellen Massentierhaltung. Er meint jedoch, auch die heutige Getreide- und Sojaproduktion, der großflächige Anbau in Monokulturen, führe zum Tod zahlloser Tiere, bis zu 25 mal mehr als Weiderindfleisch. Er hat das nicht selbst ersonnen, er hat es von einem australischen Universitätsprofessor. Der, Mike Archer, hatte zwei Jahre zuvor im der dem  interwissenschaftlichen Diskurs dienenden australischen Internetzeitschrift The Conversation das Problem zur Sprache gebracht. In seiner auf die Verhältnisse in dem uns fernen Kontinent bezogenen  Abhandlung (sie blieb nicht unwidersprochen)  mit der Überschrift  Ordering the vegetarian meal? There’s more animal blood on your hands  verwies er auf die große Zahl von Mäusen und anderen Kleintieren, die dem Getreideanbau zum Opfer fielen, schon beim Pflügen und vor allem: Jedes vierte Jahr vermehrten sich die Nager explosionsartig, fielen über das Getreide her, die Farmen begegneten dem Ansturm mit Gift. Ergebnis: schätzungsweise bis zu 500 tote Mäuse je Hektar. Der Professor berechnet: Ein kg Getreideprotein koste bis zu 25 mehr fühlenden Tieren das Leben als ein kg Weiderindprotein. (Anm. Mit dem mitteleuropäischen Getreideertrag  und in Kalorien statt in Protein gerechnet wären es nur zweieinhalb Tierleben mehr. Ohne Giftwürden die meisten Mäuse wohl kurz nach der Ernte Hungers sterben).

Mäuse seien hoch entwickelte Tiere mit ausgeprägter Sozialstruktur, Mausmännchen betörten die weibliche Mäusejugend als Liedsänger; um die scharten sich die jungen Mäusedamen ähnlich menschlichen Teenagern, die Popsänger anhimmeln.

Als Heilmittel gegen den Mäusemord em-pfahl der Professor, Kängurus zu essen und Weidetiere. Das mag vielleicht theoretisch für ein Land mit einer Bevölkerungsdichte von kaum drei Menschen pro km2,  unermesslichen Weideflächen mit 130  Millionen Schafen und vielen Millionen Weiderindern – lassen wir die Gesundheit beiseite –  ein gangbarer Weg sein. Wir wollen uns aber  keine australischen Köpfe zerbrechen.

Eine Übertragung auf Europa scheitert nicht nur, weil es hier keine Kängurus gibt. Die Bevölkerungsdichte in den Ländern der Europäischen Union ist um vieles höher, 30, 60, 100 mal und mehr. Warum wohl hat bei steigender Menschenzahl die intensive Landwirtschaft extensive Viehhaltung verdrängt? Weil sie ein sehr Vielfaches an Ertrag bringt. Und noch etwas Wesentliches: Die Vegetationsperiode beträgt bei uns etwa ein halbes Jahr, für die andere Hälfte müssten wir Vorräte sammeln durch Wiesenmahd oder sonst mehr oder weniger intensive Landwirtschaft. Damit wären wir wieder dort, wo unser Urgeschmackler weg will.

Auf  Europa bezogene Berechnungen blieb Olshewski schuldig. Auch diese Frage ließ er offen: Ist bei Weiderindverzehr die  Tötungsbilanz wirklich günstiger? Muss kein Tier durch Rinderzucht sterben als schließlich das Rind selber?  Zertrampelt das mächtige Tier während der zwei, drei Jahre in der Natur nicht gelegentlich ein anderes, kleines, oder frisst es beim Grasen einfach mit? Oder zerstört seine Lebensgrundlage?

Die Weiderind-Theorie können wir also beiseite legen; was nicht heißt, dass sich Fleischfreunde an in enge Ställe gepferchten Mastrindern gütlich tun sollen. Wenn jemand schon unbedingt Fleisch essen will, ist aus Tierschutzsicht  das – leider sehr seltene – echte Weiderind immer noch am besten.

Der Weide-Vorschlag hilft also nicht, die Ernährung der Weltbevölkerung pfleglich sicherzustellen. Doch es lässt sich nicht bestreiten, auch Pflanzen essen kostet Leben.

Die immer stärkere Industrialisierung der Landwirtschaft, der robuste Einsatz immer größerer Maschinen, verschärft die Sache.

Nicht, dass Feld- und Gartenarbeit nicht immer schon Streit mit all denen,  die schon früher da waren oder kommen um mitzuessen, bedeutet hätte. Auch im kleinen Hausgarten musste sich die Bäuerin der Wühlmäuse und der Maulwurtsgrillen, die von unten her fraßen, der Schnecken, Vögel, der Hasen, der Rehe, die den Pflanzen von oben her zuleibe  rückten, zu erwehen trachten, musste massenhaft Kohlweißlingsraupen von den Kohlköpfen klauben …  Die alten Jaina wussten, warum sie die Landwirtschaft mieden – wenngleich es eher urtümlichem Denken und weniger heutiger ethischer Wertung  entspricht, sich Reinheit zu wahren, indem man die Dreckarbeit andere machen lässt.

Doch die Gefahren für das Getier durch von Ochsen gezogene Pflüge und durch händischen Sensenschwung waren gering im  Verhältnis zu modernen Großmaschinen, die mit überbreiten Geräten über Felder donnern, das Raupen Klauben und Vögel Verscheuchen harmlos gegenüber dem massenhaften Chemieeinsatz in den Monokulturen, den erstmals die vor fünfzig Jahren gestorbene Rachel Carson im „Stummen Frühling“ geißelte.

Was tun? Biologische Landwirtschaft mindert das Chemieproblem, ansonsten kaum etwas.  Der Urköstler, der nicht allein auf Fleisch setzt, empfiehlt Perma-Kultur. Frutarier gibt es seit langem, das Plantagen-Problem können sie auch nicht lösen.

Mögen Olschewski und Archer aus ehrlicher Liebe zu Mäusen schreiben, mag es nur billiger Vorwand sein, um ohne Gewissensbisse dem Fleischgenuss frönen zu können, mag ihre Rechnung falsch sein; auch wenn es einen Unterschied macht, ob wir uns gegen Angreifer wehren oder ob wir gezielt Tiere in die Welt setzen, in Kerkerhaft groß ziehen, um sie aufzuessen, dennoch:

Die Weide-Befürworter haben uns einen wichtigen Fingerzeig gegeben, sie haben ein Problem  (wieder) ins Licht gerückt, das in vegetarischen Kreisen gern übersehen wird. Wie können wir die nun einmal unumgängliche pflanzliche Ernährung möglichst leidfrei gestalten?

Erwin Lauppert

Aus der Herbstnummer 2014 der anima (Nr.3/2914). Weitere Artikel aus diser Nummer siehe hier  und unter www.vegetarier.at