Erbarmen

Erbarmen – ein Entrüstungsruf und Fürbitte
von Peter Rosegger  1843 – 1918) 

 Ostern – Zeit der Besinnung. Den nachstehenden Artikel  hat der Dichter aus der steirischen Waldheimat vor 130 Jahren geschrieben und in seiner Zeitschrift der Heimgarten im Jahrgang 1891/92 veröffentlicht.   Die  öffentliche Meinung und auch die Gesetze haben sich seither geändert.  Doch ist die Praxis quwantitativ gesehen nicht eher schlimmer geworden?  Die beschriebene „gemütliche“ Form des Tiere-Quälens ist industrieller Akkord-Hektik gewichen; doch hat sich hierzulande im Grunde, an der Behandlung des Tieres als Sache kaum etwas geändert. Das Vieh wird zwar nicht mehr zu Fuß in die Schlachthöfe getrieben doch dafür gibt es tage-, ja wochenlange  Transporte zu Lande und zu See zu erschütternden Bedingungen; gerade die jüngste Sperre des Suezkanals hat es gezeigt. Wohl gibt es erheblich mehr Vegetarier als einst, doch  hat sich dank des gestiegenen Wohlstands der Fleischkonsum insgesamt in einem zur Zeit Roseggers unvorstellbarem Ausmaß erhöht, und damit auch die Zahl der Tieropfer.

Erbarmen

Da war ein rotgesichtiger Fleischerbursche, der um die Lenden eine weiße, mit Blut besprenkelte Schürze geschlungen hatte und mörderisch fluchte. Denn er führte am Strick ein Kalb, welches nicht gehen wollte, so sehr auch der große Fleischerhund hinter ihm bellte, grölte und es in die Beine biß. Das Kalb war in solcher Todesangst, daß es blökend, stöhnend mit den Vorderfüßen zusammenbrach, gleichsam als ob es niederknien und um Barmherzigkeit flehen wollte. Aber am Strick, den es um den Hals trug, riß der Fleischer das Tier immer wieder empor und also ward es durch das Dorf geschleppt und der Fleischhauerei “Zum Goldenen Ochsen” zu.

Das Tier wurde durch das breite Einfahrtstor in den Hof geführt, an dessen Wänden große eiserne Haken angebracht waren. Dort warf es der Fleischer auf das Steinpflaster, kniete darauf hin, zog das Messer und durchstach an den Hinterbeinen die Schenkel. Hernach riß er das Kalb bei diesen Beinen empor und hing es durch die Löcher an den Eisenhaken auf. Das so niederhängende Kalb strampelte mit den Vorderfüßen in der Luft und schlug, erbärmlich blökend, seinen Kopf an die Wand, daß es krachte. Der Hund sprang lechzend im Halbkreis umher, manchmal nach dem zappelnden Tier hinaufschnappend.

Der Fleischer holte von der Kammer einen Bottich herbei, den er unter das hängende Tier stellte, dann: schärfte er ruhig sein Schlachtmesser, faßte mit der einen Hand das Opfer an dem Ohr und stieß ihm mit der anderen das Messer in den Hals. – Noch lange schlug der Leib hin; und her, dann hing es leblos nieder, und das Blut rieselte in den Bottich. … …

Meine Leser sind empört – aber nicht etwa über den Fleischer, der eben sein Gewerbe ausübt, sondern vielmehr über den Mann, der so widerliche Dinge drucken läßt. Man könnte ja fast ohnmächtig werden beim Lesen. Ich gebe es zu, vermute aber, daß das Hängen an aufgeschlitzten Schenkeln und das Warten auf den Todesstoß noch einigermaßen unangenehmer sein dürfte als das Lesen dieser Geschichte. Und das Schlimmste an der Geschichte, daß sie nicht etwa geschehen ist, sondern auch noch immer geschieht, täglich hundertfach geschieht …

Die Tierschutzvereine entwickeln zwar eine geradezu rührende Tätigkeit zur Einführung von    q zweckmäßigen, rasch tötenden oder wenigstens momentan betäubenden Schlachtwerkzeugen, wie sie in den Städten meist schon angewendet werden; diese Vereine tun alles Mögliche zur Abschaffung von haarsträubenden Grausamkeiten, die auf dem Lande etwas Alltägliches sind. Allein die Leute wollen nicht darauf eingehen, sie bleiben bei ihrem alten Brauch. Und die Behörden verhalten sich gleichgültig, zumeist ablehnend gegen die Bestrebungen zum Schutze der Tiere.

Die Volksschule lässt es sich zwar angelegen sein, der Roheit entgegenzuarbeiten und humanen Sinn in den Kinderherzen zu pflegen, aber der Weg aus der Schule reißt oft alles nieder, was die Schule aufgebaut hat. Und der Lehrer selbst, der tagsüber zu seinen Schülern von dem Kannibalischen der Schlächterei spricht, begehrt vielleicht abends beim Fleischhauer einen Rostbraten – wenn die Gehaltsklasse einen solchen erlaubt. Wer Fleisch verzehrt, ist Mietschlächter, sagen die Vegetarianer. Eine schlechte Gehaltsklasse  ist manchmal  ein mächtigerer Sittenfaktor als die beste Überzeugung.
 Sehr tüchtig hat mich in vorbedachter Sache ein junger Erzieher abgekanzelt. Der erklärte meinem Protest gegen die Grausamkeit in den Schlachthäusern für Sentimentalitätsduselei, und meinen Wunsch, dass vor allem die Kinder von solchen Abscheulichkeiten ferngehalten werden sollten, für Unsinn. “Wollen Sie aus unseren Knaben rührselige Jammerbasen machen?”, rief er entrüstet aus “Unsere deutschen Knaben, die Enkel Hermanns, welche einst Russland lahmlegen und Frankreich vernichten müssen, die Knaben sollen verweichlicht Werden, sollen kein Schwein und kein Kalb töten sehen dürfen?!”

Ich kann nicht einsehen, daß wir alle miteinander nur darum auf der Welt sein sollen, um einander zu quälen und zu töten. Ideal und Religion, die das Leben noch erträglich gemacht, hat man verworfen, um jetzt in heller Verzweiflung schreien zu müssen: Die Welt ist unselig, die Liebe ein Phantom, das Dasein ein Kampf, das Leben eine Qual, der Tod ein Schrecken! – Nun, die Menschen sollen zusehen, wie sie sich aus solch von ihnen selbst geschaffenen erbärmlichen Zuständen wieder herausarbeiten. Meine heutige Fürsprache gilt dem Tiere, das selber nicht sprechen kann. Ich freilich verstehe seine Sprache, seine Klage, seinen oft gräßlichen Schmerz , den der leichtsinnige, unüberlegsame Mensch ihm verursacht.

Meine Freunde! so werde das Tier sprechen, wenn es eine menschliche Sprache hätte. Indes führt es eine Sprache, die Gott versteht, und dieser Mittler wird einmal darauf antworten.

Darf ich auch noch sagen, daß unsere Sittenlehre nicht strenge genug ist gegen Tierquälereien. Wo ist das Gesetz, das Tierquälereien klar und entschieden verbietet und bestraft? Wer Menschenliebe verlangt, der muß auch Liebe und Mitleid zu den Tieren predigen. Ein Herz, das gegen die Tiere verroht ist, wird gegen die Menschen nicht zart sein. Die Religion sagt, alles in der Welt sei nur zum Nutzen des Menschen erschaffen. Es ist dies eine etwas hochmütige Meinung, die der Wolf oder der Tiger gelegentlich umkehren könnte, sobald er der Stärkere ist, und das Insekt und die Bakterie tatsächlich umgekehrt hat, eben weil diese Wesen, durch ihre Winzigkeit geschützt, stärker sind als Mensch. Zugegeben aber, die Tiere sind zum Nutzen des Menschen erschaffen, ist das ein Grund für diesen, undankbar zu sein?

Im Angesichte der Qualen, die den hilflosen Tieren von – wenn auch nicht immer bösartigen, so doch unbedacht handelnden – Menschen überall zugefügt werden, möchte ich niederknien vor euch, Mitmenschen, und mit gefalteten Händen euch bitten, anflehen: Erbarmen! Erbarmen für die Tiere! Sie sind wie wir von Gott erschaffen, um sich des Lebens zu freuen! Sie haben mit uns den einen Vater im Himmel. – Wir dürfen uns vor ihnen schützen, wir dürfen sie nützen, so wie ja auch wir untereinander uns schützen und nützen. Aber die Tiere haben von Natur – und gotteswegen und endlich auch unsertwegen ihre heiligen Rechte, die zu verletzen eine Todsünde ist. – Und denket noch ein bißchen weiter oder näher, denket an euch selbst. Gar so sicher und klar steht’s nicht um uns. Wir haben unseren Weg durch die Schöpfung noch lange nicht zurückgelegt, keiner von uns weiß, in welchen Balg er noch geraten kann! Ware ich der liebe Gott, ich würde der Abwechslung halber den Gesellen, der heute Fleischer ist, morgen Kalb sein lassen. Und übermorgen ihn höflich fragen, was er über die Sache denke? Vielleicht käme doch eine gute Verständigung und ein billiger Ausgleich zustande zwischen Menschen und Tier die schöne Welt würde dadurch sehr viel gewinnen, und das Menschenherz noch mehr. Und zur Stunde, wenn der Mensch in seiner höchsten Not weinend vor mich – seinen Gott – hinsinkt und um Erbarmen fleht für sich, für sein Kind – wie könnte ich ihn unerhört lassen, wenn er barmherzig war gegen meine Kreatur!

(Gekürzt; Quelle: anima – Zeitschrift für Tierrechte, Nr.1/2002)

Die anima-Redaktion hatte damals dazu noch angemerkt; Wir brachten die vor mehr als hundert Jahren geschriebene Geschichte, um zu verdeutlichen, daß der Zwist um das Schächten weniger geographisch-kulturell als entwicklungsgeschichtlich, zeitlich bedingt ist.