Weihnachtspredigt für Tiere

von Ernst Wiechert (1887 – 1950)  —  Wiechert, in den Wäldern des einstigen Ostpreußens aufgewachsen, war zu Lebzeiten  –  vom Naziregime argwöhnisch beäugt und beschränkt, kurze Zeit ins KZ gesperrt – einer der beliebtesten deutschsprachigen Schriftsteller. Aus urheberrechtlichen Gründe (Schutzfristverfall) können wir Ihnen den Text erst jetzt im neuen Jahr fast zu Ende derWeihnachtszeit bringen. Er erscheint uns, auch wenn er vielleicht moderne Sprachmode  nicht mehr so ganz entspricht, zeitlos.

Und es waren Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des nachts ihre Herden. Ja, ihr wart dabei. Als das Licht der Liebe über die Erde fiel und des Herrn Engel in die Verkündigung trat, wart ihr dabei. Aus dem Dunkel des Stalles wandtet ihr eure großen, sanften Augen nach dem Schrei der Gebärenden und dem Strahlenden um ihren Scheitel. Eine Krippe war des Kindes erstes Haus. Bei euch ward es geboren, gekleidet, angebetet. Über eurem Dach stand der Stern. Die Menschen hatten keinen Raum, aber ihr hattet Raum, hattet Geduld, Sanftheit, Schweigen. Alt wart ihr. Schon damals. Ewigkeiten schimmerten schon damals in eurem Blick, die begonnen hatten, als der Mensch noch ein Traum war. Und als er der Herr der Erde wurde, wart ihr da, schweigsam, geduldig, wie Untertanen da sind, wenn der König kommt. Auch als die Liebe über die Erde fiel, wart ihr da, wart Herberge, Wärme, Nahrung, Gehorsam, Demut. Und wart vergessen, gleich den toten Dingen im Raum, damals wie heute. „Denn euch ist he ute der Heiland geboren“, sprach der Engel des Herrn. Ihr saht sein Licht, ihr hörtet seinen Segen. Aber „euch“, das war der Herr der Erde, der Mensch, deren jeder um diese Stunde ein König der Empfängnis war. „Siehe, ich verkündige euch große Freude!“ Ihm, nicht euch. Die große Freude vergaß euch, die ewige Seligkeit vergaß euch. Nur als man nach Bildern für das gottselige Wunder suchte, dachte man an euch, an das Unbeseelte, Schweigende. „Es ist ein Ros‘ entsprungen“, sang man. „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, sang man. Aber es gab keinen Himmel für die Blumen, keine goldene Stadt für das Tier. Ihr Vergessenen, ihr Schweigenden und Unerlösten, zu euch will ich sprechen in dieser Weihnachtsnacht. Ihr hört mich nicht. Aber hört das Meer mich, wenn ich an seinem Ufer stehe, ein Erschütterter seiner Ewigkeit? Hört die Blume mich, über die ich beseligt mich beuge? Der Baum, an dessen Rinde ich meine Wange lege? Der Mensch, dessen Hand ich ergreife? Gott, zu dem ich rufe? Wir sprechen nicht um Erhörung. Wir sprechen wie eine Glocke, die der Wind anrührt. Sie bebt und tönt, sie fragt nicht, ob die Herzen erbeben und tönen, zu denen sie spricht. Das Unerhörte ist mehr als das Erhörte. Ihr Vergessenen, immer wart ihr bei den Heiligen und bei den Kindern, bei Franziskus und in den Märchen. Ihr sangt, als Siegfried war und Grane Gold trug von der Heide, ihr sangt, als Gudrun wusch am Meeresstrand, ihr spracht im Haupte Faladas, ihr wart die sieben Schwäne und die sieben Raben. Ihr Brüder und Schwestern aus unserer Kinderzeit und der Kinderzeit der Menschen, ich möchte euch bitten, uns zu vergeben, was wir euch angetan. Ich möchte euch so viel Gutes tun um diese Weihnachtszeit. Denn ich bin euer Schuldner für Zeit und Ewigkeit. Als ich ein Kind war, hatte ich einen Kranich. Er lebte in meinem Garten, und der Garten war der Garten Eden, in dem wir als zwei Brüder miteinander wohnten. Um die Mittagsstunde lag ich auf dem Rasen und rief nach meinem Vogel. Er kam und blieb zu meinen Füßen stehen. Dann legte er sich nieder, daß sein Leib zwischen meinem Arm und meinem Herzen lag und verbarg seinen Kopf an meiner Brust. Ein leise träumender Laut kam unaufhörlich aus seiner Kehle, unsäglich geborgen und glückselig. Meine Hand strich über sein bläuliches Gefieder wie über die Wange eines Kindes, und dann schliefen wir ein, während die Bienen über uns summten und der Pirol vom Walde rief. Ja, ich bin sein Schuldner für Zeit und Ewigkeit. Ich bin ein Schuldner jeder Drossel, die am Abend in den Fichten sang, als ich meine Verse schrieb, ein Schuldner jener jungen Schwalbe, die einst auf meiner Schulter saß, als ich zum erstenmal aus dem Kriege kam, ein Schuldner des Pferdes, das mich trug, des Hundes, der mich tröstete, ein Schuldner aller derer, die mich nun in meiner Stille besuchen, von den Meisen vor meinem Fenster bis zu dem Weberknecht, der jeden Abend auf meinem Schreibzeug sitzt und zu meiner schreibenden Hand hinübersieht. Ach, ich möchte euch soviel Gutes tun, ich möchte ein Zauberer sein und an diesem Heiligen Abend durch eure Wohnungen gehen, durch die Tannen des Winterwaldes und die Höhlen der Erde, zu den kalten Nestern, wo das Eichhorn schläft und unter der Rinde der Bäume, wo die Käfer ruhn. Ich möchte euch Futter streuen und Frieden mit meiner Hand, und ich möchte zu euch sprechen können, daß ihr mich versteht. Ja, ich möchte wohl Lichter anzünden auf einem Baum der tiefen Wälder und euch zu mir bitten, ihr Vergessenen. Und ich möchte die Verheißung des Jesaja zu euch sprechen: „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen, und die Pardel bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden an der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinanderliegen, und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter.“ Das wird sein, wenn der Gottesfriede auf der Erde sein wird, von dem die Weissagungen und Offenbarungen sprechen. „Wartet, ihr meine Brüder!“ möchte ich zu euch sprechen unter den Kerzen im Winterwald. „Auch die Stillen unter uns warten des Gottesfriedens. Auch einander hassen, verfolgen und töten wir. Einmal werden wir des müde sein. Einmal wird der Zauber von uns fallen, das Harte unserer Augen und Hände, und ihr werdet aufstehen aus euch, wie das Königskind im Märchen aus dem häßlichen Entlein aufstand. Dann werden wir teilen mit euch, wie Joseph, der Erhöhte, mit seinen Brüdern teilte. Nicht nur die Speise teilte, nicht nur die Erde, nicht nur das Leid, sondern auch den Himmel, von dem wir träumen. „Ich glaube“, sagt Luther, „daß auch die Belferlein und Hündlein in den Himmel kommen und jede Kreatur eine unsterbliche Seele habe.“ Wartet, ihr meine Vergessenen. „Ich träumte“, erzählt die Legende des Orients, „ich träumte, ich sei im Himmel. Da kam ein Fuß hinein. ,Der Mann‘, sagte der Engel, dem dieser Fuß gehört, war böse in allen Dingen und ist deshalb jetzt in der Hölle. Mit diesem Fuß aber hat er einmal einem durstigen Kamel den Wasserkübel nähergeschoben!‘ Wartet, ihr meine Vergessenen, auf den Himmel, in dem ihr euch unserer Füße erbarmen werdet.“