Waldlilie im Schnee

 

Ehe sich das Gedenkjahr “Peter Rosegger” – er starb vor hundert Jahren – zu Ende neigt, noch eine kleine Geschichte aus der Feder des Dichters:    Ist so ein Wilderer geworden, der Berthold. Das Holzen wirft viel zu wenig ab für eine Stube voll von Kindern Ich schicke ihm an Lebensmitteln, was ich vermag; aber das genügt nicht. Für das kranke Weib eine kräftige Suppe, für die Kinder ein Stück Fleisch will er haben und schießt die Rehe nieder, die ihm des Weges kommen. Dazu tut die Leiden-schaft das ihre, und so ist der Berthold, der vormal einst als Hirt ein so guter, lustiger Bursch gewesen, durch Armut, Trotz und Liebe zu den Seinigen, und durch Torheit anderer recht sauber zum Verbrecher herangewachsen.

Einmal schon bin ich bittend vor dem Förster gelegen, daß er es dem armen Familienvater um Gottes Willen ein wenig, nur ein klein wenig nachsehen möge, er werde sich gewiß bessern und ich wolle mich für ihn zum Pfande stellen. Bis zu diesen Tagen hat er sich nicht gebessert; aber das Geschehnis dieser wilden Win-tertage hat ihn laut weinen gemacht, denn seine Waldlilie liebt er über alles.

Ein trüber Winterabend ist es gewesen. Die Fenster sind mit Moos vermauert; draußen fallen frische Flocken auf alten Schnee. Berthold wartet bei den Kindern und bei der kranken Aga nur noch, bis das älteste Mädchen, die Lili, mit der Milch heimkehrt, die sie bei einem nachbar-lichen Klausner im Hinterkar erbetteln muß. Denn die Ziegen im Haus sind ge-schlachtet und verzehrt; und kommt die Lili nur erst zurück, so will der Berthold mit dem Stutzen in den Wald hinauf. Bei solchem Wetter sind die Rehe nicht weit zu suchen.

Aber es wird dunkel und die Lili kehrt nicht zurück. Der Schneefall wird dichter und schwerer, die Nacht bricht herein und Lili kommt nicht. Die Kinder schreien schon nach der Milch, dem Vater verlangt schon nach dem Wild; die Mutter richtet sich auf in ihrem Bette. „Lili!“ ruft sie, „Kind, wo trottest denn herum im stockfinsteren Wald? Geh’ heim!“

Wie kann die schwache Stimme der Kranken durch den wüsten Schneesturm das Ohr der Irrenden erreichen?

Je finsterer und stürmischer die Nacht wird je tiefer sinkt in Berthold der Hang zum Wildern und desto höher steigt die Angst um seine Waldlilie. Es ist ein schwaches, zwölfjähriges Mädchen, es kennt zwar die Waldsteige und Abgründe, aber die Steige verdeckt der Schnee, den Abgrund die Finsternis.

Endlich verläßt der Mann das Haus, um sein Kind zu suchen. Stundenlang irrt und ruft er in der sturmbewegten Wildnis; der Wind bläst ihm Augen und Mund voll Schnee; seine ganze Kraft muß er anstrengen, um wieder zur Hütte zurück gelangen zu können.

Und nun vergehen zwei Tage; der Schneefall hält an, die Hütte des Berthold wird fast verschneit. Sie trösten sich überlaut, die Lili werde wohl bei dem Klausner sein. Diese Hoffnung wird zunichte am dritten Tag, als der Berthold nach einem stundenlangen Ringen im verschneiten Gelände die Klause vermag zu erreichen.

Lili sei vor drei Tagen wohl bei dem Klausner gewesen und habe sich dann beizeiten mit dem Milchtopf auf den Heimweg gemacht.

So liegt denn meine Waldlilie im Schnee begraben“, sagt der Berthold. Dann geht er zu anderen Holzern und bittet, wie diesen Mann kein Mensch noch hat bitten gesehen, daß man komme und ihm das tote Kind suchen helfe.

Am Abend desselben Tages haben sie die Waldlilie gefunden.

Abseits in einer Waldschlucht, im finste-ren, wildverflochtenen Dickicht junger Fichten und Gezirme, durch das keine Schneeflocke vermag zu dringen, und über dem die Schneelasten sich wölben und stauen, daß das junge Gestämme darunter ächzt, in diesem Dickicht, auf den dürren Fichtennadeln des Bodens, inmitten einer Rehfamilie von sechs Köpfen ist die liebliche, blasse Waldlilie gesessen.

Es ist ein sehr wunderbares Ereignis. Das Kind hat sich auf dem Rückweg in die Waldschlucht verirrt, und da es die Schneemassen nicht mehr hat überwin-den können, sich zur Rast unter das trockene Dickicht verkrochen. Und da ist es nicht lange allein geblieben. Kaum ihm die Augen anheben zu sinken, kommt ein Rudel von Rehen an ihm zusammen, alte und junge; und sie schnuppern an dem Mädchen und sie blicken es mit milden Augen völlig verständig und mitleidig an, und sie fürchten sich gar nicht vor diesem Menschenwesen, und sie bleiben und lassen sich nieder und benagen die Bäumchen und belecken einander und sind ganz zahm; das Dickicht ist ihr Winterdaheim.

Am anderen Tage hat der Schnee alles eingehüllt. Waldlilie sitzt in der Finsternis, die nur durch einen Dämmerschein gemildert ist, und sie labt sich an der Milch, die sie den ihren hat bringen wollen, und sie schmiegt sich an die guten Tiere, auf daß sie im Frost nicht erstarre.

So vergehen die bösen Stunden des Verlorenseins. Und da sich die Waldlilie schon hingelegt zum Sterben und in ihrer Einfalt die Tiere hat gebeten, daß sie getreulich bei ihr bleiben möchten bis es aus ist; da fangen die Rehe jählings ganz seltsam zu schnuppern an und heben die Köpfe und spitzen die Ohren und in wilden Sätzen durchbrechen sie das Dickicht und mit gellendem Pfeifen stieben sie davon.

Jetzt arbeiten sich die Männer durch Schnee und Gesträuche herein und sehen mit lauten Jubel das Mädchen, und der alte Rüpel ist auch dabei und ruft: „Hab‘ ich nicht gesagt, kommt mit herein zu sehen, vielleicht ist sie bei den Rehen!“

So hat es sich zugetragen; und wie der Berthold gehört, die Tiere des Waldes hätten sein Kind gerettet, daß es nicht erfroren, da schreit er wie närrisch: „Nimmermehr! Mein Lebtag nimmer-mehr!“ und seinen Kugelstutzen, mit dem er seit manchem Jahr Tiere des Waldes getötet, hat er an einem Stein zerschmettert.

Ich habe es selber gesehen, denn ich und der Pfarrer sind in den Karwässern gewesen, um die Waldlilie suchen zu helfen.

Aus dem Roman  “Die Schriften des Waldschulmeisters” 1875

Das, wenn ich einmal von einer anderen Welt auf dieses unbegreifliche Erdenleben zurückschaue, das werde ich am allerwenigsten begreifen können, daß ich Tierleichen gegessen habe.

Peter Rosegger

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