Das 80:20 – Gesetz

Vegetarische Perfektion? (Aus anima Herbst 2013): Der nachstehende Artikel ist nicht neu, man konnte ine vor zwölf Jahren in der anima lesen und dann in der einen oder anderen Tierrechts- oder Vegetarierzeitung. In manchen Punkten, namentlic was die staatitischen Vegetarierzahlen betrifft und die Erhältlichkeit manch veganer Produkte ist er überholt. Warum wir die Zeilen heute dennoch hervorholen? Einmal, um uns freudvoll vor Augen zu führen, wie viel Fortschrtit es in den letzten zwölf Jahren gegeben hat, zum anderen jedoch, weil sich an der Problemstellung im Grundsätzlichen nichts geändert hat. Gerade die jüngsten Angriffe der deutschen Massenpresse gegen den bescheidenen Vorschlag der dortigen Grünen, an einem Tag in öffentlichen Kantinen fleischfrei zu kochen, zeigt un, wie weit der Weg zum Vegetarismus noch ist.

Unmittelbarer Anlass zum Textabdruck sind jedoch Klagen. die uns gehäuft aus vegetarischen Kreisen erreichen über fanatische Veganer, die gemäßigte Vegetarier quasi zu Aussätzigen stempeln.

 Das scheint uns keine kluge Politik, eher geeignet Menschen den Vegetarismus überhaupt zu verleiden, und auch sachlich kaum  begründet. Denn vegan leben ist zwar konsequentes Manifest gegen Tierausbeutung und hat zweifellos ähnlich der erkämpften Gesetzesbestimmung „Tiere sind keine Sachen“ psychologichen Wert.

Doch bringt es leider, nüchtern betrachtet, solange die große Mehrheit der Bevölkerung um vieles mehr an Fleisch isst, als den Rindern genommen werden kann, nur gegenüber Eierverzehr ein Wenige an Tiertötungen, nicht jedoch insgesamt gesehen gegenüber laktovegetarisch.

Das 80:20 – Gesetz

Vegetarische Perfektion?

Dem italienischen Wirtschaftswis-senschaftler Pareto war es vor hundert Jahren beim Erdäpfel-ernten aufgefallen. Um 80 % der Kartoffeln aus der Erde zu bringen brauchte es eine Stunde, um alle, also auch die restlichen 20 % herauszuklauben, zwei oder vier.. Daraus wurde das sogenannte Pareto-Gesetz: 80:20. Mit anderen Worten, Perfektion kostet unverhältnismäßig viel. Sind Zeit und sonstige Mittel knapp, empfiehlt es sich also nachzudenken: Ist es sinnvoll, auf Vollendung zu beharren oder reicht es auch ein bißchen schlampiger?

 

Entschiedene Vegetarier möchten nicht nur Fleisch meiden, auch Nebenprodukte vom toten Tier wie Gelatine, Schweinefett etc. (und soferne sie der veganen Richtung zugehören, auch vom lebenden Tier) sind ihnen zuwider, mag auch ihr Anteil nur im Promillebereich liegen. Dem entsprechend werden wir immer wieder gefragt, ob dieses oderjenes Produkt rein vegetarisch/vegan ist. Denn: kein Fleisch, das ist relativ einfach. Doch darüber hinaus wird es schwierig und mühsam. Und bedarf nahezu kriminalistischer Fähigkeiten. Es ist kaum zu glauben, wie oft sich Geschlachtetes wenn auch häufig nur in Spuren, in manch unverfänglich scheinendem Produkt verbirgt und ist es auch nur, daß beim Brotbacken Schweinefett zum Blecheinreiben verwendet wird.

 

Wir von der ÖVU bemühen uns redlich, bei der Industrie nachzuforschen, wenn auch mit eher mäßigem Erfolg. Das erste Hindernis: Manchen der dort Verantwortlichen ist nicht ganz klar, was vegetarisch überhaupt bedeutet (Anm. Der Wossensstand hat sich seither gehoben), Nun, dem läßt sich abhelfen. Das zweite: sie wissen natürlich, woraus ihr Produkt hauptsächlich besteht, doch woraus die Zutaten sind, ist ihnen häufig nicht geläufig. Manche Ingredienzien lassen sich sowohl aus Tierischem als auch aus anderen Quellen herstellen. Und kommen von weit her…. Bestätigungen namentlich aus fernen Ländern sind oft das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Die Vertreterin eines großen Konzerns klagte, daß es selbst für ihr marktmächtiges Großunternehmen schwierig wenn nicht gar unmöglich sei, sicherzustellen, daß das importierte Lanolin (Wollfett) von lebenden und nicht von toten Tieren stamme. Von einer renommierten großen Schokoladewaren-Fabrik erhielten wir unlängst die Nachricht, daß sie Vegetariern leider nicht dienen könne. Alle ihre Produkte enthielten zumindest Gelatine. Ein anderes Schoko-Unternehmen bestätigte uns dagegen die vegetarische Eignung seiner Produkte. Kommt das wirklich ohne Gelatine aus?

 

Nun läßt sich einwenden, daß es ja Deklarationspflichten gibt, sicher, nur muß nicht überall und alles deklariert werden, und vor allem nicht, ob die Beigabe tierischen oder anderen Ursprungs ist. Nm. Einiges hat sich seither gebessert. Und nachprüfen?  (Anm. Gegenüber diesem gekürzt wiedergegebenem Klagelied hat sich einiges gebessert. Eine Subkultur für veganen Bedarf, Versandhandel und ein paar Spezialgeschäfte, hat sich gebildet, doch im Normalhandel schaut es von einigen gut gekennzeichneten Artikeln abgesehen immer noch schlecht aus).

 

Tatsache ist, daß Milliarden von Tieren umgebracht werden. Tatsache ist daß sie nicht zur Gänze aufgegessen werden, umso weniger je mehr der Wohlstand zunimmt. Wer nagt heute hierzulande noch Hühnerzehen ab, wer ißt noch Rindertalg? Selbst mindere Fleischsorten sind wenig gefragt. Alles, was übrig bleibt, will irgendwie verwertet werden, drängt auf den Markt, besticht durch Billigkeit und wird verwendet, wer kennt das nicht von den Futtermittelskandalen. Und wenn schon nicht als Nahrungsmittelzusatz für Mensch oder Tier oder für die Kosmetikindustrie, dann vielleicht als Schmiermittel für die Maschinen oder als Heizmaterial für Industrieöfen. Übrigens, ist Brot, wenn der Backofen mit Tiermehl, sprich Leichenteilen geheizt wurde, noch vegetarisch?

 

Hier taucht eine Frage auf: Warum ist jemand Vegetarier? Was wollen wir Vegetarier?

 

Einen in sich geschlossenen Kreis von Menschen, die beschlossen haben, am vegetarischen Gedanken moralisch sich emporzuranken, wie es Christian Morgenstern so hübsch formuliert hat; einen Kreis mit strikten Lebensregeln, der ‑ von der Außenwelt mehr oder weniger mild belächelt, wie es einst die der Lebensreform verschriebenen Vegetarier hundert Jahre lang waren ‑ in seiner Welt glücklich ist, sozusagen eine Sekte, in der die Frage, ob Soja-Joghurt veget-arisch und welche politische Meinung korrekt ist, hohen Stellenwert besitzt?

 

Oder als Esoteriker das triste Jammertal der Welt verlassen und befreit vom erdwärts ziehenden Ballast tierischer Nahrung lichten himmlischen, nirwanischen Höhen entgegenschweben? Oder, oder etc. etc.

 

Oder schlicht ein bißchen Tierquälerei mindern helfen?

 

Ist letzteres der Zweck der vegetarischen /veganen Übung, wäre zu bedenken:
Mit drei
Fleischessern, die ihren Fleischkonsum halbieren, ist diesem Zweck mehr gedient als mit einem Vegetarier. Mit zwei Menschen, die Lakto-Ovo-Vegetarier werden, mehr als mit einem Veganer (Anm. und nit einem Lakto-Vegetarier (also ohne ovo) fast oder gar genau so viel wie mit einem Veganer. Siehe Seite 6).

 

Seit gut eineinhalb Jahrhunderten wird für den Vegetarismus in der strengen (vegan) und der milderen Form (lakto und/oder-ovo) geworben. Das Ergebnis ist betrüblich. e Wenn es hoch kommt vielleicht 4 oder 5 Prozent der Bevölkerung, (Anm. Die jüngste Meinungsufrage weist 9 % aus, was sich aber bisher in der Schlachtstsitik bisher kaum widerspiegelt. Über 90 % ser Befölkerung essen immer noch Fleisch und 99  % Tierisches).

 

 Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Ich bewundere Menschen, die konsequent sind, die um ihrer Überzeugung willen Unbill und Mißgunst auf sich nehmen. Ich bewundere Menschen, die sich dem Kampf gegen qualvolle Tierversuche verschrieben haben und folgerichtig im Krankheitsfall die Einnahme tierversuchter Arzneimittel der Pharmaindustrie, und das sind alle, verweigern. Ich bewundere eine mir bekannte Dame, die die Zecken schont, die an ihrem Busen Gefallen finden, und mit ihrem Blut nährt. Doch wie viele werden ihr folgen?

 

Es ist sicher wertvoll – und wir tun es als Vegetarierorganisation – immer wieder den rein vegetarischen/veganen Charakter von Produkten zu hinterfragen. Es wäre schön, wenn es alle Vegetarier täten. Und sie sollten sich nicht fürchten als Spinner abgetan zu werden. Unsere ganze Wirtschaft lebt ja überspitzt formuliert davon, daß es genug Spinner gibt, die hart arbeiten, um sich Produkte kaufen zu können, die sie eigentlich gar nicht brauchen.

 

Dennoch, alles Hinterfragen wird nichts bringen außer ein bißchen Bewußtseinsbildung, wenn es nicht viele tun. Ein paar Außenseiter sind für unsere industrielle Wirtschaft uninteressant. Und mehr werden es nur tun, wenn es viel mehr, wenn auch vorerst nur laxe Vegetaríer gibt. Denn die Intensivierung des Vegetarismus ist ein Entwicklungsprozeß.

 

Es erhebt sich die Frage wenn uns der Tierschutz am Herzen liegt, sollten wir die knappe Zeit und die beschränkten Mittel, die uns zur Verfügung stehen, nicht besser dazu verwenden, Fleischesser zu überzeugen, weniger oder gar kein Fleisch zu essen, als nachzuforschen – ähnlich einstiger Ahnenpaßzeiten – ob das Soja-Joghurt wirklich eine veget‑arische Großmutter hat? Und wäre es nicht besser zu schauen, daß man es im Lebensmittelmarkt bekommt, und nicht nur Milch-Joghurt? (Anm. Da hast sich erfreulicherweise einiges geändert, aber nicht genug). Es ist verständlich: wer in einem total verschmutzten Haus lebt, möchte sich wenigstens ein Kammerl rein und wohnlich einrichten. Will er aber das ganze Haus wohnlich gestalten, bringt es wenig, im Zimmer 27 eine Fensterschnalle auf Hochglanz zu polieren. Da ist es besser zuerst den groben Schutt anzugehen.

 

Wir können es auch von der anderen Seite betrachten. Fleischnebenprodukte in den Waren, Tiermehl als Heizmaterial gibt es nur, weil so viel davon anfällt. Und so viel fällt nur an, weil so viele Menschen Fleisch essen wollen.

 

Das (Tierschutz/rechts-) Problem ist das 200-Gramm-Schnitzel, nicht das eine Gramm Gelatine oder das Backblechfett.

 

 Mit Radikalforderungen ‑ du darfst keine Schokolade essen, es könnte Gelatine drinnen sein oder eine nicht koschere E-Nummern-Zutat ‑ bekehren wir fürchte ich nur wenige zum Vegetarismus.

 

Einst vor hundert Jahren in Galizien ließ sich ein Offizier vom Gemeindediener am Sabbat die Synagoge zeigen. Zum Abschied sagte er: Ich würde Ihnen ja gern ein Trinkgeld geben, aber Sie dürfen ja am Sabbat kein Geld annehmen. Meinte der Synagogendiener: Gott der Gerechte wäre schön froh, täten die Menschen am Sabbat nichts Schlimmeres als Trinkgeld nehmen.                        

 

Erwin Lauppert