Vegetarier sind Mörder (?)

Wiedergabe aus der anima – Frühjahrsnummer 2011, Seite 13 -15: (Sie können alle älteren anima-Hefte auch unter www.vegetarier.at lesen).

Leserforum: Vegetarier sind Mörder (?)

Und ist die Gruppe noch so klein, sie schlagen sich die Schädel ein.

 

Liebe Redaktion!

 

Ich weiß nicht ob Sie sich mit diesen Fragen befassen, jedoch liegt mir etwas auf dem Herzen und ich würde gerne die Meinung eines professionellen und seriösen vegetarischen Verbands hören.

Ich bin Vegetarierin, esse also weder Fleisch noch Fisch. Jedoch nehme ich Eier, Milch, Käse etc zu mir.

Ich bin vor kurzem auf Herrn Stößers Seite “Vegetarier-sind-Mörder” gestoßen und mich hat diese Seite empört und die Tatsache dass jemand wirklich soweit geht, nicht Fleischesser sondern Vegetarier zur Rechenschaft zu ziehen und als “Mörder” zu bezeichnen finde, ich nicht in Ordnung. Ich fasse seine Worte sehr schlecht auf. Mir ist durchaus klar, dass Tiere durch Milch- oder Eierproduktion ebenfalls leiden und im Endeffekt auch sterben. Nur finde ich es absurd auf Vegetarier los zu gehen und diese als Sündenbock zu benutzen. Fleischesser kritisieren Vegetarier und Veganer, Vegetarier kritisieren Fleischesser, und nun kritisieren Veganer Vegetarier? Ich finde das doch etwas weit hergeholt. Mich ärgert vor allem dass Herr Stößer der Meinung ist, Fleischesser würden weniger schaden anrichten als Vegetarier, was ich doch recht widersprüchlich finde. Ich finde die Lebenseinstellung von Veganern äußerst löblich und würde niemals auf den Gedanken kommen sie und ihre Ansichten zu kritisieren, wie komme ich nun dazu von einem Veganer kritisiert und als “Mörderin” bezeichnet zu werden?

Ich würde sehr gerne Ihre Meinung dazu hören, mich würde durchaus interessieren was Sie von dieser Webseite halten bzw von Herrn Stößers Ansichten.

N. N. (Name der Redaktion bekannt)

Mit der Anschuldigung ‚Vegetarier sind Mörder’ hat sich die anima schon oft befasst. Es ist eigentlich nichts Neues hinzuzufügen. Wir greifen das Thema nochmals auf, weil nicht nur Herr Stößer seit langem den Slogan hinausruft sondern manch andere auch. Da hatte zum Beispiel vor kürzerem eine Tierschützerin in Luxemburg einen für alle Tierfreunde offenen Demonstrationsmarsch für Tierrechte veranstaltet. Voll Stolz berichtete dazu mit längerer Begründung ein anderer Tierrechtler unter dem Titel „Kuschelkurs mit Ovo-Lactos?“: Seine Gruppe sei mit Schildern „Vegetarier sind Mörder“  (nebst erklärenden Worten) mitmarschiert.

Vorerst zur Klarstellung eine Begriffsbestimmung: Unter Vegetariern oder um nicht sexistisch anzustoßen vegetarisch Lebenden versteht man seit gut einem Jahrhundert Menschen, die nichts vom toten Tier, vereinfacht gesagt: kein Fleisch essen.  Das ist das entscheidende Kriterium, nicht die Frage, was und wie sie sonst noch, nur oder nicht essen oder trinken, Milch, Wein, Schokolade, Gekochtes, Rohes, abgefallene Früchte oder was immer. Vegetarisch ist ein Sammelbegriff, unter den all die Unterarten wie Rohköstler,  Frutarier, Waerlandisten, Sonnenköstler fallen und natürlich auch die Gruppe, die man früher strenge Vegetarier nannte und die jetzt unter der Bezeichnung Veganer firmieren. Daher zählen Veganer selbstverständlich auch zu den Vegetariern. Den Begriff Vegetarier mit Lacto-und/oder Ovo-Vegetariern gleichzusetzen ist also schlicht Irreführung, beabsichtigt oder unbeabsichtigt.  Nicht Käse essen ist das Kriterium sondern kein Fleisch essen.

Die Begriffsbestimmung  trifft natürlich nicht den Kern des Mörderthemas. Der Punkt ist: Wie viele Tiere müssen für unser aller Essen sterben?  Nehmen wir die Schlachtstatistik zur Grundlage sind es in Österreich mehr als 90 Millionen Warmblüter, Fische also nicht gerechnet: Ca. 70 Millionen Mastgeflügel, ca. 7 bis  8 Millionen Masttiere mit vier Füßen  (überwiegend  Schweine, dann Rinder, Schafe, Ziegen, Pferde, Kaninchen, Wild), ca. 7 Millionen Legehennen, ca. 7 Millionen männliche Küken (oder  ca. 3,5 Millionen, falls man sie nur halb rechnet, vergleichsweise: abgetriebene menschliche Föten rechnet man nicht  zu den Morden) und  eine halbe Million Milchkühe oder Kälber. Das heißt grob gerechnet (mit einer gewissen Streuungsbreite, Legehennen und Milchrinder können teilweise auch dem Fleischkonsum zugeordnet werden) durch Verzicht auf Fleisch lassen sich Tiertötungen in der Nahrungsproduktion um ca. 85 % reduzieren, durch Verzicht auf Eier um zusätzlich ca. 11–14 %, durch Verzicht auf Milch (selbst wenn man Laktovegetariern erhöhten Milchkonsum unterstellt) nur um ein weiteres Prozent.

Also vegane Vegetarier reduzieren die Tötungen um 100 %, Lacto-Vegetarier um 99 %.

Allerdings, selbst rein vegane Ernährung  geht nicht ohne Töten. Auch Gemüse, Obst, Getreide für Menschen kostet vorhersehbar und unter den üblichen Produktionsbedingungen unvermeidlich tierliches Leben. Nicht umsonst meiden die Jainas den Beruf des Bauern. Moderne Landmaschinen und selbst die gute alte Sense, Mähen, Pflügen, Bekämpfung sogenannter Schadtiere, Chemikalieneinsatz, Vorräteschutz …. alles hat seinen Preis, zahlbar in Tierleben, sehr vorsichtig geschätzt: ca. eine Million Säugetiere und Vögel.

Also lautet die berichtigte grobe Erfolgsrechnung: etwa 99 % Tötungsminderung für vegane und unter Berücksichtigung der Kosten der Rinderfütterung) 97 oder 98 % für Lacto-Vegetarier.

Zählen wir auch andere Tiere, namentlich (dem  veganen Honigverbot folgend) Insekten dazu, ergäbe dies beim üblichen intensiven Chemikalieneinsatz und beim brutalen Bieneneinsatz in Großplantagen ein erheblich schlechteres Ergebnis für die veganen und auch die übrigen Vegetarier.

Mit anderen Worten auch die Mörderrufer finden sich als Kollegen im Kreis der Mörder.

Der hohe Preis, den die Tiere außer fürs Essen uns Menschen, ob vegan oder nicht, für unsere geliebte Zivilisation überhaupt zahlen müssen,  ist da noch nicht inbegriffen: schnelle Verkehrsmittel, gläserne Fensterfronten, asphaltierte Straßen, die uns die Schuhe rein halten, doch Millionen Regenwürmern, Schnecken Tod bringen, usw. usw.

So wird die von einigen Veganern lauthals verkündete scharfe Trennung der Welt in a) Fleischesser und Lacto-Vegetarier und b) Veganer nicht nur praktisch abwegig sondern auch philosophisch anfechtbar. Ihre Trennung der Menschheit a) in Leute, die 0 bis 97 und b) in Leute, die 99 Leben retten, ähnelt sehr der alten anthropozen-trischen  Einteilung der Welt in a) Menschen und getrennt durch eine große Kluft  b) Menschenaffen, Läuse  und sonstiges Getier.

Der langen Rede kurze Sinn, wir können uns eingebettet in diese Welt dem Ideal nähern, erreichen können wir es nicht. Nicht einmal der Eremit, der von den Früchten der Wildnis lebt: wenn er eine Himbeere pflückt, in der eine Made lebt.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Hochachtung jedem, der Milch und Ei meidet. Noch mehr Hochachtung, wenn er nicht nur Hühnergefängnisse verurteilt, sondern daraus „abgetane“ Hennen vor dem Tod rettet und in seinem Garten einen friedlichen Lebensabend beschert, mag er deren Eier  essen oder nicht.

Doch bei all den Meinungsverschiedenheiten sollte eines nicht vergessen werden: Warum wird jemand Vegetarier ob streng ob moderat? Von gesundheitlichen, ökonomischen etc. Gründen abgesehen doch wohl, um Tieren Leid zu sparen.

Es ist eine Leiter mit vielen Sprossen die nicht gerade ins Himmelreich, doch in Richtung weniger Tierqual führt. Nach eineinhalb Jahrhunderten organisierter vegetarischer Bemühungen milder und auch strenger Art haben gerade (statistische Zahlen 2006/7) zwei von tausend Bewohnern unseres Landes als Veganer die 99. Sprosse erklommen, zwei Stufen drunter stehen ein paar Laktovegetarier,  noch ein bisschen tiefer etliche Ovo/Lak-to-Vegetarier, auf halber Höhe eine große Gruppe, die den Fleischkonsum erheblich eingeschränkt hat, noch viele mehr aber ganz unten ohne die geringste Absicht hinaufzuklettern.

Wenn die zwei obersten denen ein paar Sprossen darunter zusprechen, weiter zu klettern, ist das gut und hilfreich. Doch wenn sie hinunterschreien, alle ob weit oben oder unten,  die nicht auf unserer Stufe stehen, sind miese Verbrecher? Ist das eine gute Motivation hinaufzusteigen?

Zurück zur Luxemburger Demonstration für die Tiere: Da marschiert ein kleines Häuflein mit Tafeln „Vegetarier sind Mörder“ durch die große Menge der Fleischesser. Werden diese jetzt in Scharen auf Milch und Eier verzichten und vor allem einmal dem Fleisch entsagen? Ich fürchte, sie werden sich zufrieden und ohne Gewissensbisse zum Sonntagbraten setzen und allenfalls sinnieren:  die Tierrechtler … die sind wohl abseits gestanden, als der liebe Gott die Gabe des Intellekts verteilte.

Es ist hier nicht der Platz um den alten Streit zwischen Abolitionisten und Reformern ausführlich zu behandeln. Nur so viel:

„Wer Tieren helfen will, meint Gotthard M. Teutsch im Lexikon der Tierschutzethik, darf durchaus ein radikales oder gar utopisches Ziel haben … aber er kann die Annäherung nur in Einzelschritten erreichen, und wenn er sich dabei zuviel vornimmt, programmiert er nur die eigene Enttäuschung. Im Gegensatz zum theoretischen Ethiker muß der praktische Tierschützer immer wieder auf Kompromisse eingehen, weil der Alles-oder Nichts-Grundsatz besonders im Tierschutz immer nur zum Nichts und niemals zum Alles führt.“

anima-Redaktion