Musil, Die kleine Katze

Robert Musil (1880 – 1942): Die kleine Katze (Aus der Novelle “Die Portugiesin”)  (aus anima Nr1/2016, Seite 16f.): Eines Tags, als sie in Gesellschaft den Berg heraufkamen, war oben vor dem Tor die kleine Katze. Sie stand vor dem Tor, als wollte sie nicht nach Katzenart über die Mauer setzen, machte einen Buckel zum Willkomm und strich den ohne irgend einen Grund über ihre Anwesen­heit erstaunten großen Geschöpfen um Rock und Stiefel. Sie wurde eingelassen, aber es war gleich, als ob man einen Gast empfinge, und schon am nächsten Tag zeigte sich, daß man vielleicht ein kleines Kind auf­genommen hatte, und nicht bloß eine Katze: solche Ansprüche stellte das zierliche Tier, das nicht den Vergnügungen in Kellern und Dach­böden nachging, sondern keinen Augenblick aus der Gesellschaft der Menschen wich. Und es hatte die Gabe, ihre Zeit für sich zu bean­spruchen, was recht unbegreiflich war, da es doch so viel andre, edlere Tiere am Schloß gab, und die Menschen auch mit sich selbst viel zu tun hatten; es schien geradezu davon zu kom­men, daß sie die Augen zu Boden sen­ken muß­ten, um dem kleinen Wesen zuzuse­hen, das sich ganz unauffällig benahm und um ein klein wenig stiller, ja man könnte fast sa­gen trauriger und nachdenklicher war, als ei­ner jungen Katze zukam. Die spielte so, wie sie wissen mußte, daß Menschen es von jun­gen Katzen erwarten, kletterte auf den Schoß und gab sich sogar er­sichtlich Mühe, freund­lich mit den Menschen zu sein, aber man konnte fühlen, daß sie nicht ganz dabei war; und gerade dies, was zu einer gewöhnlichen jungen Katze fehlte, war wie ein zweites We­sen, ein Ab-Wesen oder ein stiller Heiligen­schein, der sie umgab, ohne daß einer den Mut gefunden hätte, das auszusprechen. Die Portu­giesin beugte sich zärtlich über das Geschöpf­chen, das in ihrem Schoß am Rücken lag und mit den winzigen Krallen nach ihren tändeln­den Fingern schlug wie ein Kind, der junge Freund beugte sich lachend und tief über Kat­ze und Schoß, und Herrn von Ketten erin­nerte das zerstreute Spiel an seine halb überwunden­e Krankheit, als wäre die, samt ihrer Todessanft­heit, in das Tierkörperchen verwan­delt, nun nicht mehr bloß in ihm, sondern zwi­schen ih­nen. Ein Knecht sagte: Die bekommt die Räu­de.

Herr von Ketten wunderte sich, weil er das nicht selbst erkannt hatte; der Knecht wieder­holte: Die muß man beizeiten erschlagen.

Die kleine Katze hatte inzwischen einen Na­men aus einem der Märchenbücher erhalten. Sie war noch sanfter und duldsamer gewor­den. Jetzt konnte man auch schon bemerken, daß sie krank und fast leuchtend schwach wur­de. Sie ruhte immer länger aus im Schoß von den Ge­schäften der Welt, und ihre kleinen Krallen hielten sich mit zärtlicher Angst fest. Sie be­gann jetzt auch einen um den andren an­zusehn; den bleichen Ketten und den jungen Portugiesen, der vorgeneigt saß und den Blick von ihr nicht wendete, oder von dem Atmen des Schoßes, in dem sie lag. Sie sah sie an, als wollte sie um Vergebung dafür bitten, daß es häßlich sein werde, was sie in ge­heimer Ver­tretung für alle litt. Und dann be­gann ihr Mar­tyrium.

Eines Nachts begann das Erbrechen, und sie er­brach bis zum Morgen; sie war ganz matt und wirr im wiederkehrenden Tageslicht, als hätte sie viele Schläge vor den Kopf erhalten. Aber vielleicht hatte man dem verhungerten armen Kätzchen bloß im Übereifer der Liebe zuviel zu fressen gegeben: doch im Schlafzim­mer konnte sie danach nicht mehr bleiben und wurde zu den Burschen in die Hofkammer ge­tan. Aber die Burschen klagten nach zwei Ta­gen, daß es nicht besser geworden sei, und wahrscheinlich hatten sie sie auch in der Nacht hinausgewor­fen. Und sie brach jetzt nicht nur, sondern konnte auch den Stuhl nicht halten, und nichts war vor ihr sicher. Das war nun eine schwere Probe, zwischen einem kaum sichtbaren Heili­genschein und dem gräßlichen Schmutz, und es entstand der Be­schluß – man hatte inzwischen erfahren, wo­her sie gekommen war, – sie dort­hin zurück­tragen zu lassen; es war ein Bauern­haus unten am Fluß. Man würde heute sagen, sie stellten sie ihrer Heimatsgemeinde zurück; aber das Gewissen drückte sie alle, und sie gaben Milch und ein wenig Fleisch mit und sogar Geld, damit die Bauersleute, wo Schmutz nicht soviel ausmachte, gut für sie sorgten. Die Dienstleute schüttelten dennoch die Köpfe über ihre Herrn.

Der Knecht, der die kleine Katze hinunterge­tragen hatte, erzählte, daß sie ihm nachgelau­fen war, als er zurückging, und daß er noch einmal hatte umkehren müssen: zwei Tage später war sie wieder oben am Schloß. Die Hunde wichen ihr aus, die Dienstleute trauten sich wegen der Herrschaft nicht, sie fortzuja­gen, und als die sie erblickte, stand schwei­gend fest, daß jetzt nie­mand mehr ihr verwei­gern wollte, hier oben zu sterben. Sie war ganz abgemagert und glanzlos geworden, aber das ekelerregende Leiden schi­en sie überwunden zu haben und nahm bloß fast zusehends an Körperlichkeit ab. Es folgten zwei Tage, die verstärkt alles noch einmal ent­hielten, was bis­her gewesen war: langsames, zärtliches Um­hergehen in dem Obdach, wo man sie hegte; zerstreutes Lächeln mit den Pfo­ten, wenn sie nach einem Stückchen Papier schlug, das man vor ihr tanzen ließ; zuweilen ein leichtes Wan­ken vor Schwäche, obgleich vier Beine sie stützten, und am zweiten Tag fiel sie zuweilen auf die Seite. An einem Menschen würde man dieses Hinschwinden nicht so selt­sam empfun­den haben, aber an dem Tier war es wie eine Menschwerdung. Fast mit Ehrfurcht sahen sie ihr zu; keiner dieser drei Menschen in seiner besonderen Lage blieb von dem Gedan­ken verschont, daß es sein eigenes Schicksal sei, das in diese vom Irdischen schon halb ge­löste kleine Katze übergegangen war. Aber am drit­ten Tag begannen wieder das Erbrechen und die Unreinlichkeit. Der Knecht stand da, und wenn er sich auch nicht traute, es zu wieder­holen, sagte doch sein Schweigen: man muß sie erschlagen. Der Portugiese senkte den Kopf wie bei einer Versuchung, dann sagte er zur Freundin: es wird nicht anders gehn; ihm kam es selbst vor, als hätte er sich zu seinem eigenen Todesurteil be­kannt. Und mit einem­mal sahen alle den Herrn von Ketten an. Der war weiß wie die Wand ge­worden, stand auf und ging. Da sagte die Portu­giesin zum Knecht: Nimm sie zu dir.

Der Knecht hatte die Kranke auf seine Kam­mer genommen, und am nächsten Tag war sie fort. Niemand frug. Alle wußten, daß er sie er­schlagen hatte. Alle fühlten sich von einer un­aussprechlichen Schuld bedrückt; es war et­was von ihnen gegangen. Nur die Kinder fühl­ten nichts und fanden es in Ordnung, daß der Knecht eine schmutzige Katze erschlug, mit der man nicht mehr spielen konnte. Aber die Hunde am Hof schnupperten zuweilen an ei­nem Grasfleck, auf den die Sonne schien, sträubten das Fell und blickten schief zur Sei­te….

Wenn Gott Menschwerden konnte, kann er auch Katze werden, sagte die Portugiesin, und er hätte ihr die Hand vor den Mund halten müssen, wegen der Gottesläste­rung, aber sie wußten, kein Laut davon drang aus diesen Mauern hinaus.

Anm. Das stellvertretende Leiden der Tiere, vom antiken Tieropfer bis zu den grausamen Tierversuchen der Gegenwart, wird durch Musil in seiner Novelle „Die Portugiesin“, auf subtile Weise gestaltet und in eine Analogie zum Opfertod Jesu gebracht. Es geht um die Liebe einer kleinen Katze, die alles Unheilvol­le und Bedrohliche einer zwischenmenschli­chen Situation auf sich zieht in ihrer qualvol­len Passion. Man könnte dies als eine Art Theodizee auslegen: Gott leidet in seiner Schöpfung. Vielleicht kann dies ein Aspekt auch des Christentums sein, der zu jener ganz­heitlichen Schau der Schöpfung als Einheit mit dem Schöpfer führt, die wir derzeit in der ausschließlich anthropozentrischen Sicht der Kirchen vermissen, die sich in der Frage nach dem Sinn des Leidens der Tier noch kaum um eine Antwort bemüht hat. Christine Beidl
aus anima Nr. 2/1992