Das 80 : 20 – Gesetz

Wir bringen den nachstehenden  vor zwölf Jahren (abgestimmt auf die damaligen Verhältnisse) in der anima erschenenen Artikel, da das Thema zeitlos aktuell ist.

Dem italienischen Wirtschaftswissenschaftler Pareto war es vor hundert Jahren beim Erdäpfelernten aufgefallen. Um 80 % der Kartoffeln aus der Erde zu bringen brauchte es eine Stunde, um alle, also auch die restlichen 20 % herauszuklauben, zwei. Daraus wurde das sogenannte Pareto-Gesetz: 80:20. Mit anderen Worten, Perfektion kostet unverhältnismäßig viel. Sind Zeit und sonstige Mittel knapp, empfiehlt es sich also nachzudenken: Ist es sinnvoll, auf Vollendung zu beharren oder reicht es auch ein bißchen schlampiger?

Entschiedene Vegetarier möchten nicht nur Fleisch meiden, auch Nebenprodukte vom toten Tier wie Gelatine, Schweinefett etc. (und soferne sie der veganen Richtung zugehören, auch vom lebenden Tier) sind ihnen zuwider, mag auch ihr Anteil nur im Promillebereich liegen. Dem entsprechend werden wir immer wieder nach rein (lakto-ovo)vegetarischen oder rein veganen Produkten gefragt. Denn: kein Fleisch, das ist relativ einfach. Doch darüber hinaus wird es schwierig und mühsam. Und bedarf nahezu kriminalistischer Fähigkeiten. Es ist kaum zu glauben, wie oft sich Geschlachtetes wenn auch häufig nur in Spuren, in manch unverfänglich scheinendem Produkt verbirgt und ist es auch nur, daß beim Brotbacken Schweinefett zum Blecheinreiben verwendet wird.

Wir von der ÖVU bemühen uns redlich, bei der Industrie nachzuforschen, wenn auch mit eher mäßigem Erfolg. Das erste Hindernis: Manchen der dort Verantwortlichen ist nicht ganz klar, was vegetarisch überhaupt bedeutet, von vegan ganz zu schweigen. Nun, dem läßt sich abhelfen. Das zweite: sie wissen natürlich, woraus ihr Produkt hauptsächlich besteht, doch woraus die Zutaten sind, ist ihnen häufig nicht geläufig. Manche Ingredienzien lassen sich sowohl aus Tierischem als auch aus anderen Quellen herstellen. Und kommen von weit her. Aus den Rechnungsbelegen selbst einer sehr kleinen vor kurzem aufgelassenen Grazer Seifenfabrik beispielsweise war zu sehen, daß sie ihre Rohstoffe aus den verschiedensten Ländern, aus England, aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, aus Deutschland bezog. Bestätigungen namentlich aus fernen Ländern sind oft das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Die Vertreterin eines großen Konzerns klagte, daß es selbst für ihr marktmächtiges Großunternehmen schwierig wenn nicht gar unmöglich sei, sicherzustellen, daß das importierte Lanolin (Wollfett) von lebenden und nicht von toten Tieren stamme. Nun gibt es nicht nur ehrliche Leute, und im harten Geschäftsleben ist Wahrhaftigkeit besonders schwierig. Von einer renommierten großen Schokolade- warenfabrik erhielten wir unlängst die Nachricht, daß sie Vegetariern leider nicht dienen könne. Alle ihre Produkte enthielten zumindest Gelatine. Ein anderes Schoko-Unternehmen bestätigte uns dagegen die vegetarische Eignung seiner Produkte. Kommt das wirklich ohne Gelatine aus?

Nun läßt sich einwenden, daß es ja Deklarationspflichten gibt, sicher, nur muß nicht überall und alles deklariert werden, und vor allem nicht, ob die Beigabe tierischen oder anderen Ursprungs ist. Und nachprüfen? Wir hatten einmal wegen Schweinefett in Broten die staatliche Lebensmitteluntersuchungsanstalt kontaktiert, es war eine Fülle von Telefongesprächen mit magerem Ergebnis; ganz abgesehen daß die Kosten solcher Untersuchungen für Normalmenschen schwer zu verkraften wären.

Tatsache ist, daß Milliarden von Tieren umgebracht werden. Tatsache ist daß sie nicht zur Gänze aufgegessen werden, umso weniger je mehr der Wohlstand zunimmt. Wer nagt heute hierzulande noch Hühnerzehen ab, wer ißt noch Rindertalg? Selbst mindere Fleischsorten sind wenig gefragt. Alles, was übrig bleibt, will irgendwie verwertet werden, drängt auf den Markt, besticht durch Billigkeit und wird verwendet, wer kennt das nicht von den Futtermittelskandalen. Und wenn schon nicht als Nahrungsmittelzusatz für Mensch oder Tier oder für die Kosmetikindustrie, dann vielleicht als Schmiermittel für die Maschinen oder als Heizmaterial für Industrieöfen. Übrigens, ist Brot, wenn der Backofen mit Tiermehl, sprich Leichenteilen geheizt wurde, noch vegetarisch?

Hier taucht eine Frage auf: Warum ist jemand Vegetarier? Was wollen wir Vegetarier?

Einen in sich geschlossenen Kreis von Menschen, die beschlossen haben, am vegetarischen Gedanken moralisch sich emporzuranken, wie es Christian Morgenstern so hübsch formuliert hat; einen Kreis mit strikten Lebensregeln, der ‑ von der Außenwelt mehr oder weniger mild belächelt, wie es einst die der Lebensreform verschriebenen Vegetarier hundert Jahre lang waren ‑ in seiner Welt glücklich ist, sozusagen eine Sekte, in der die Frage, ob Soja-Joghurt vegetarisch und welche politische Meinung korrekt ist, hohen Stellenwert besitzt?

Oder als Esoteriker das triste Jammertal der Welt verlassen und befreit vom erdwärts ziehenden Ballast tierischer Nahrung lichten himmlischen, nirwanischen Höhen entgegenschweben? Oder, oder etc. etc.

Oder schlicht ein bißchen Tierquälerei mindern helfen?

Ist letzteres der Zweck der vegetarischen/veganen Übung, wäre zu bedenken:
Mit drei
Fleischessern, die ihren Fleischkonsum halbieren, ist diesem Zweck mehr gedient als mit einem Vegetarier. Mit zwei Menschen, die Lakto-Ovo-Vegetarier werden, mehr als mit einem Veganer (Ovo-lakto-Vegetarismus bedeutet bei mäßigem Milch- und Eigenuß immerhin Reduzierung des durch Tiernutzung verursachten Tierleids um ca. 80 bis 90 Prozent).

Seit gut eineinhalb Jahrhunderten wird für den Vegetarismus in der strengen (vegan) und der milderen Form (lakto und/oder-ovo) geworben. Das Ergebnis ist betrüblich. Wenn es hoch kommt, wahrscheinlich sind die Zahlen sogar erheblich niedriger, sind vielleicht 4 oder 5 Prozent der Bevölkerung (Lacto-ovo)-Vegetarier (der Ernährungsbericht 1998 spricht noch von 2 %) und 4 oder 5 Promille Veganer. (Wenn überhaupt. Vor etlichen Monaten bin ich durch die Wiener Mariahilfer Straße geschlendert von Schuhgeschäft zu Schuhgeschäft und habe das Personal mit der Frage nach lederfreien Qualitäts-Straßenschuhen genervt. Nach der Reaktion der Angestellten zu schließen, war ich der erste, der ihnen je diese Frage stellte. Nur dank meiner „Vegetarian Shoes“ konnte ich sie wenigstens überzeugen, daß es so was gibt. (Dabei hatten wir den Zentralen der führenden Schuhfirmen wiederholt den lederfreien Schuh ans Herz gelegt). Wenn es tatsächlich in Wien und Umgebung 10.000 überzeugte Veganer gibt, von den angeblich 100.000 L-O-Vegetariern (sie könnten sich ja auch für das Lederverbot erwärmen) ganz zu schweigen, dürfte die Frage doch nicht Erstaunen hervorrufen.)

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Ich bewundere Menschen, die konsequent sind, die um ihrer Überzeugung willen Unbill und Mißgunst auf sich nehmen. Ich bewundere Menschen, die sich dem Kampf gegen qualvolle Tierversuche verschrieben haben und folgerichtig im Krankheitsfall die Einnahme tierversuchter Arzneimittel der Pharmaindustrie, und das sind alle, verweigern. Ich bewundere eine mir bekannte Dame, die die Zecken schont, die an ihrem Busen Gefallen finden, und mit ihrem Blut nährt. Doch wie viele werden ihr folgen?

Es ist sicher wertvoll – und wir tun es als Vegetarierorganisation – immer wieder den rein vegetarischen/veganen Charakter von Produkten zu hinterfragen. Es wäre schön, wenn es alle Vegetarier täten. Und sie sollten sich nicht fürchten als Spinner abgetan zu werden. Unsere ganze Wirtschaft lebt ja überspitzt formuliert davon, daß es genug Spinner gibt, die hart arbeiten, um sich Produkte kaufen zu können, die sie eigentlich gar nicht brauchen.

Dennoch, alles Hinterfragen wird nichts bringen außer ein bißchen Bewußtseinsbildung, wenn es nicht viele tun. Ein paar Außenseiter sind für unsere industrielle Wirtschaft uninteressant. Und mehr werden es nur tun, wenn es viel mehr, wenn auch vorerst nur laxe Vegetaríer gibt. Denn die Intensivierung des Vegetarismus ist ein Entwicklungsprozeß.

Es erhebt sich die Frage wenn uns der Tierschutz am Herzen liegt, sollten wir die knappe Zeit und die beschränkten Mittel, die uns zur Verfügung stehen, nicht besser dazu verwenden, Fleischesser zu überzeugen, weniger oder gar kein Fleisch zu essen, als nachzuforschen – ähnlich einstiger Ahnenpaßzeiten – ob das Soja-Joghurt wirklich eine veget‑arische Großmutter hat? Und wäre es nicht besser zu schauen, daß man es im Lebensmittelmarkt bekommt, und nicht nur Milch-Joghurt?

Es ist verständlich: wer in einem total verschmutzen Haus lebt, möchte sich wenigstens ein Kammerl rein und wohnlich einrichten. Will er aber das ganze Haus wohnlich gestalten, bringt es wenig, im Zimmer 27 eine Fensterschnalle auf Hochglanz zu polieren. Da ist es besser zuerst den groben Schutt anzugehen.

Wir können es auch von der anderen Seite betrachten. Fleischnebenprodukte in den Waren, Tiermehl als Heizmaterial gibt es nur, weil so viel davon anfällt. Und so viel fällt nur an, weil so viele Menschen Fleisch essen wollen. Das (Tierschutz/rechts-) Problem ist das 200-Gramm-Schnitzel, nicht das eine Gramm Gelatine oder das Backblechfett. Mit Radikalforderungen ‑ du darfst keine Schokolade essen, es könnte Gelatine drinnen sein oder eine nicht koschere E-Nummern-Zutat ‑ bekehren wir fürchte ich nur wenige zum Vegetarismus.

Einst vor hundert Jahren in Galizien ließ sich ein Offizier vom Gemeindediener am Sabbat die Synagoge zeigen. Zum Abschied sagte er: Ich würde Ihnen ja gern ein Trinkgeld geben, aber Sie dürfen ja am Sabbat kein Geld annehmen. Meinte der Synagogendiener: Gott der Gerechte wäre schön froh, täten die Menschen am Sabbat nichts Schlimmeres als Trinkgeld nehmen.

Erwin Lauppert

Aus anima Nr. 3/2001